Galerie Bärbel Grässlin

Secundino Hernández

May 29Jul 9 2021

KEINE SCHÖNHEIT OHNE GEFAHR

Secundino Hernández’ Farben waren schon immer unabhängig. Sie klammern sich an keinen Gegenstand. In jedem Bild bringen sie alles Sichtbare aus sich heraus zur Erscheinung. Seine jüngsten Bilder, 2020 und 2021 entstanden, stellen allerdings alles auf die Probe, was ihn in den vergangenen Jahren begleitet hat. 

Nach wie vor wird alles in der Farbe ausgetragen, doch da ist eine spürbar neue Freiheit. Es gibt keine Schnitte, keine Splitter, keine harsch vernähten Risse. Die Bildgründe sind ganz und unversehrt. War die Farbigkeit bislang phantomgleich, ist sie mit einem Mal völlig klar – weder abgeschliffen oder heruntergewaschen noch wogend aufgetürmt oder zäh verkrustet. 

Kräftiges Weiß durchtränkt die neun Leinwände und geht tief in ihr stoffliches Gewebe ein. Auf diesen umsichtig geschichteten Flächen erstrahlt nun die Farbe, als positive Setzung aufgetragen und tatsächlich stehengelassen. Es ist ein lebhaftes Kommen und Gehen unzähliger malerischer Spuren, das Hernández mit den einfachsten Gesten seiner Hand entfacht. Ein hinreißendes Farbgestöber aus rhythmischen Schraffuren, fließenden Bewegungszügen und schroffen Flecken, mit unerwarteten Wendungen und Richtungswechseln.

Die Bilder sind beweglich und offen. Ein zentrales Motiv besitzen sie nicht. Ausgehend von einer leeren Mitte steigern die individuell gesetzten Töne die Zerstreuung um ein Vielfaches. Ferner entzieht Hernández den Leinwänden die Anlehnung an den umgebenden Raum. Im Verborgenen mag er sich zwar am horizontal-vertikalen Kreuz der Grundrichtungen orientieren, jedoch bringt er sämtliches Geschehen weg von den stabilisierenden Seitenrändern auf die Fläche. Diese unbegrenzte Frontalität lässt die Farben auf den Bildfeldern visuell schweben und umhertreiben, ausstrahlen wie gestaltlos aufblühende Bouquets, vibrieren und gleißen wie im Gegenlicht. 

Ob die Farben luftig zerstäuben oder trocken stehen bleiben, langsam oder schnell sind, alles, was geschieht, tritt ganz nach vorn. Ein lebendiger Farbraum, der selbst die Betrachtung in sich aufnimmt. Spielend bekräftigt Hernández damit Robert Delaunays koloristische Überlegungen, dass die Farbe »Form und Inhalt gleichermaßen ist«. Unermüdlich fragt er, wie sich Farben untereinander verhalten, miteinander umgehen und sich wechselseitig beeinflussen. 

Durch Gewicht, Ausdehnung und Intensität behauptet jede Farbe eine Art unsichtbares Kraftfeld, einen partiellen Blickpunkt, der unsere Aufmerksamkeit kurz fokussiert und sodann wieder in die Fläche entlässt. Nie unbeteiligt, sondern fortwährend in Beziehungen mit anderen Farben, in Abneigung oder Anziehung. Hernández wägt diese Kräfte sorgsam ab, die Gefahr ist groß, dass ihr filigraner Zusammenhang zerreißt. In zahllosen Nuancen bringen sich die Farben selbst hervor und er spürt ihnen nach:

Auf einen dominanten Anfangston folgt der entsprechende Kontrast. Zumeist sind dies Blau und Gelb. Das Gelb verlangt nun nach seinem eigenen Gegenpart, etwa einem Türkis, zu dem sich wiederum das Blau verhält und beispielsweise mit einem Purpur antwortet. Dies vollzieht sich in schillernden Farbreihen von Pink, Flieder und Violett über Mint und Petrol, Ocker, Orange und Braun zu Grau und Schwarz, bis jede Farbe ihren angemessenen Platz gefunden hat und sich das Ganze harmonisch fügt.

Der lebendige Zusammenhalt von Secundino Hernández’ neuen Bildern rührt also direkt aus dem lebendigen Zusammenhalt der einzelnen Töne her. Abenteuerlustig fordert er uns auf, ihn auf seinem Weg in die Farbe zu begleiten. So rätselhaft die Bilder auch erscheinen, im Malakt bewahren sie seinen Blick auf die Welt – auf ihr Temperament und ihre gegenwärtige Stimmung – und entfalten diese in der Farbe neu erlebte Welt in unserem Blick.

 

 

NO BEAUTY WITHOUT DANGER

Secundino Hernández’ colors have always been independent. They do not cling to any object. Solely from within themselves, they bring everything visible to light. His latest paintings, however, created in 2020 and 2021, put all that has accompanied him for years to the test.

Matters are still resolved purely in paint but there is a palpable new freedom. There are no cuts, no splinters, no harshly sewn tears. The pictorial grounds are whole and intact. If the colors were phantom-like before, now they are completely clear – neither sanded down nor encrusted, neither piled up in surges nor rinsed off.

Bright white saturates the nine canvases, flowing deep into the material fabric. On these prudently layered surfaces, color really does shine, applied as a positive statement and actually left to last. It is an energetic coming and going of countless painterly traces that Hernández ignites with the simplest gestures of his hand. A ravishing flurry of color made up of rhythmic movements, jagged hatchings and spots, with cunning twists and changes of direction.

The paintings are dynamic and open. There is no central motif. From an empty centre, the individually set tones increase this dispersion many times over. Furthermore, Hernández deprives the canvases of any alignment with their surroundings. Covertly, the canvases’ horizontal-vertical grid may grant some guidance but he pulls all the action away from the stabilising lateral edges onto the planes. Enabled by this unrestricted frontality, the colors visually float and drift upon the pictorial fields, they radiate like shapelessly blossoming bouquets, vibrate and glisten as if backlit. 

If the airy colors atomise or settle, if they are slowed down or accelerated, everything that happens comes right to the surface. A vivid space of color which absorbs even our own contemplation. Effortlessly, Hernández affirms Robert Delaunay’s coloristic reflections that color always »is both form and content«. Relentlessly, he inquires how colors relate to each other, interact with and mutually influence each other. 

Due to weight, extension and intensity, each color creates a kind of invisible force field, a partial focal point, briefly focussing our attention, only to release it back onto the surface immediately thereafter. Never indifferent, it keeps constant contact with all other colors, in aversion or attraction. Hernández ponders these forces carefully, too great is the danger to tear their delicate fabric apart. In countless nuances, color brings itself forth and he traces all of them:

Initially, a dominant hue is followed by the according contrast. Usually, these are blue and yellow. The yellow then demands its own counterpart, for example a turquoise. To which, in turn, the blue responds with a purple. This takes place in dazzling chromatic sequences, ranging from pink, lilac and violet, mint and petrol, ochre, orange and brown to grey and black, until every color has found its appropriate place and everything resonates in harmony.

The vital cohesion of Secundino Hernández’ new paintings thus stems directly from the vital cohesion of the individual hues. Adventurously, he invites us to accompany him on his journey into color. For as enigmatic the paintings appear, in the very act of painting they preserve his view of the world – of its temperament and present mood – and, experienced anew in color, they unfold this world in our gaze.

 

Text: Christian Malycha
Translation: Alexander Serner