Galerie Bärbel Grässlin

Jana Schröder
Neurosox – Lapse of Memory
Sep 4Oct 2 2021

Kalkül und expressive Geste

Bereits der erste Eindruck lässt kaum einen Zweifel daran, dass die Hauptakteurin in Jana Schröders NEUROSOX die Farbe in all ihrer Wirk- und Sinneskraft ist. Die abstrakten, großformatigen Leinwände eröffnen ein malerisches Universum, das die gesamte Farbpalette umfasst. Kräftiges Blau, Orange und Türkis, knalliges Rot und Pink, lieblich-süßes Rosa, Karamellbraun und pastelliges Lila ergeben im Zusammenspiel farbgewaltige Explosionen, welche die eigene visuelle Wahrnehmung derart anregen, dass sie in einer Art Reizüberflutung münden, die man sonst eher von digitalen als von gemalten Bildern kennt. Es ist, als sei man in der Süßwarenabteilung eines Supermarkts gelandet. Man fühlt sich an die perfekten Hochglanzbilder der Werbeindustrie erinnert oder an die nicht abreißende flimmernde Bilderflut des Internets.

Auf einfarbigen Gründen entfalten sich aus Flächen, Linien und ihren Formen komplexe Bildräume. Ihre Vielschichtigkeit entsteht durch die Überlagerung zahlreicher Ebenen. Diese werden mit Hilfe der zweiten Farbe in den Bildraum ›eingebaut‹. Präzise gemalte, deckende oder gar pastose Konturen und Flächen wechseln sich mit durchlässigen gestischen Farbbahnen und -schlieren ab, die nass in nass auf den Grund gemalt sind und sich so mit ihm vermischen. Das Neben-, Über- und Untereinander von kontrolliert/deckenden und expressiv/durchlässigen Partien, in denen Jana Schröders Duktus nachvollziehbar ist, lässt eine Tiefe entstehen, in die man als Betrachter geradezu hineingesogen wird. 

Man ist mittendrin in einer verworrenen Bildwelt und unternimmt ganz automatisch den Versuch, dieses dichte Netz zu entwirren, um doch noch den Anfang und das Ende der Kompositionen ausfindig zu machen. Schnell wird einem jedoch bewusst, dass diese Suche unweigerlich ins Leere verläuft und die Komplexität der Bildaufbauten eine derartige Auflösung im Vorhinein verhindert. Ist es überhaupt menschenmöglich, eine solche verzweigte Vielschichtigkeit auf die Leinwand zu bringen oder waren bei den NEUROSOX vielleicht doch Algorithmen am Werk? Diese Frage hat ihre Berechtigung, denn Jana Schröder hält sich an ein strenges Regelwerk, nach dem ihre Bilder entstehen. 

Zunächst wird die Leinwand grundiert. Dann werden mit der zweiten, stark verdünnten Farbe ausladende Streifen und Schlieren auf den noch nassen Grund aufgetragen. In einem nächsten Schritt bauen sich auf den bereits vorhandenen Strukturen in der zweiten Farbe – dieses Mal jedoch pastos – weitere präzise gemalte Formen und Linien auf, die wiederum mit der Grundfarbe übermalt oder weitergeführt werden. Es gibt jedoch einige Bildpartien, die diese Abfolge fraglich machen. Denn, wie im Ausstellungstitel bereits angedeutet, stellt Jana Schröder ihre eigenen Regeln lediglich auf, um sie im nächsten Schritt wieder zu brechen beziehungsweise zu vergessen und ihrer Intuition freien Lauf zu lassen. 

Die einzelnen Arbeiten entstehen aus zwei Farben, ihren Mischtönen sowie ihren Hell- und Dunkelabstufungen. Ihre Strahlkraft kommt aber vor allem durch die Kontraste der verwendeten Farben zustande. Kalt-Warm, Komplementär-, Simultan- und Hell-Dunkelkontraste, ihr gesamtes Potential stellt Jana Schröder in den NEUROSOX zur Schau. Bei einigen Arbeiten bewegen sich die Farben in einem Farbraum, sind zum Beispiel wie bei ENG PIN VL1 in Pink und Rot oder wie bei ENG LIL VL1 in hellem Violett und Rotbraun gehalten, so dass sie sich in ›zuckersüßer‹ Harmonie vereinen. Dadurch werden das räumliche Empfinden und das Gefühl, im Bild zu stehen, nochmals verstärkt.

Andere Werke sind wiederum in Komplementär- sowie kalten und warmen Farben gehalten. Durch ihre Wechselbeziehung wird die Intensität in einem Maße gesteigert, dass der kurze Gedanke aufkommt, die Bilder könnten wie ein Screen von hinten beleuchtet sein. Ein hervorstechendes Beispiel ist die Arbeit B RO M1, die aus einem kalten, kräftigen Türkis, einem warmen, strahlenden Karminrot sowie aus deren Zwischentönen besteht. In den Partien, in denen die reinen Farben aneinandergrenzen, wird das eben beschriebene Phänomen, das sich auch als eine Ästhetik der malerischen Künstlichkeit beschreiben ließe, besonders deutlich. Die Behandlung der Farben und die augenscheinlich akribische Untersuchung, welchen Effekt ihre wechselseitige Wirkung erzeugt, erinnert an Josef Albers’ Homage to the Square und seine Farbtheorie Interaction of Color.

Eine Ausnahme bildet B VL1, denn es ist das einzige Gemälde, das in keiner Farbe, sondern in weiß grundiert ist. Durch die Kombination von Weiß mit verschiedenen Blautönen lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie die Mischtöne aus den beiden Grundfarben entstehen. Angefangen bei den dunkelblauen Partien lässt sich beobachten, wie die helleren Blautöne durch das Verdünnen, aber vor allem auch durch das Vermischen mit dem weißen Grund in Erscheinung treten. Die unterschiedlichen Strukturen und Ebenen manifestieren sich einzig und allein durch die Farbe sowie durch Jana Schröders mal kontrolliert, mal intuitiv geleiteten Duktus. Im Zusammenspiel entsteht somit eine außerordentliche Bildtiefe, die für die gesamte Serie charakteristisch ist. 

Kalkül und expressive Geste treffen in den NEUROSOX aufeinander und entwerfen im Verbund mit den Farben einen malerischen Raum, der wie unsere Gegenwart verführerisch flimmernd und flackernd, verwirrend und verworren und schlichtweg nicht eindimensional zu entschlüsseln ist.


 


Calculus and Expressive Gesture

The first impression already leaves little doubt that the main protagonist in Jana Schröder’s NEUROSOX is color in all its effective and sensual power. The abstract, large-scale canvases open up a painterly universe which encompasses the entire chromatic palette. Vivid blue, orange and turquoise, bright red and sweetish pink, caramel brown and pastel purple combine to generate colorful explosions stimulating one’s visual perception to such an extent that they result in a kind of sensory overload one is more familiar with from digital than from painted images. It’s as if you’ve landed in the candy section of a supermarket. One is reminded of the perfect glossy images of the advertising industry or the never-ending flood of flickering images on the internet.

On monochrome grounds, intricate pictorial spaces unfold from surfaces, lines and their respective forms. Their complexity is created by the superimposition of numerous layers. These are ›built‹ into the pictorial space by means of a second color. Precisely painted, opaque or even impasto contours and surfaces alternate with permeable gestural lines and streaks of color which are painted wet in wet and thus visually blend with the ground. The juxtaposition, over- and underlapping of both controlled/concealing and expressive/permeating sections makes comprehensible Jana Schröder’s mark-making and creates a depth into which the viewer is virtually pulled. 

In the midst of an entangled painterly world, you automatically attempt to unravel this dense web in order to find the beginning and the end of the compositions. However, one soon becomes aware that this pursuit inevitably leads nowhere. The inherent complexity of such pictorial structures prevents any resolution in advance. Is it even humanly possible to unleash a manifold complexity like this onto the canvas or was it the workings of hidden algorithms in the NEUROSOX? A valid question, as Jana Schröder adheres to a strict set of rules according to which her pictures are created.

Initially, the canvas is primed in a distinctive hue. Then, with a second, highly diluted color, sweeping stripes and streaks are applied to the still wet ground. In a next step, precisely painted forms and lines, again in the base color, are built up— only this time as impasto—, effectively overpainting or continuing the second layer-structures. There are, however, some parts of the image defying this progression. For Jana Schröder, as indicated by the title of her exhibition, merely establishes her own rules to break or completely forget them thus giving free rein to her intuition.

The specific paintings arise from two colors with their blended tones as well as their light and dark gradations. But their radiance comes mainly from the color contrasts themselves. Cold/warm, complementary, simultaneous and light/dark contrasts, their entire potential is displayed by Jana Schröder in the NEUROSOX. In some works, the colors are situated among the same chromatic space, as in ENG PIN VL1 in pink and red or as in ENG LIL VL1 in light purple and reddish brown, so that they unite in ›sugary‹ harmony. This further enhances the spatial sensation and the feeling of being within the picture.

Other works are given in complementary as well as in cold and warm colors. Due to their interrelations, the intensity is heightened to such an extent that the brief thought arises the images could be backlit like a screen. A striking example is the work B RO M1 which consists of a cold, strong turquoise, a warm, radiant crimson, and the according intermediate hues. In the sections where the pure colors are adjacent to each other, the phenomenon, which could also be described as an aesthetic of painterly artificiality, becomes particularly clear. The treatment of the colors and the apparent meticulous investigation of the effects their mutual impacts have is reminiscent of Josef Albers’ celebrated color theory Interaction of Color and his Homage to the Square.

Solely B VL1 is an exception, as it is the only painting primed in white. Seeing the white combine with various shades of blue, it is possible to understand exceptionally well how the chromatic nuances spring forth from the two primary colors. Starting with the dark blue areas, one can observe how the lighter shades of blue come into appearance as a result of their diluting but also and above all as a result of them merging with the ground’s white. The different structures and levels manifest themselves purely by means of color as well as of Jana Schröder's at times controlled, at times intuitively guided gestures. This particular interplay forms an extraordinary pictorial depth characteristic of the entire series.

Calculus and expressive gesture meet in NEUROSOX and, in conjunction with the colors, create a painterly space which, like our present, flickers seductively, confuses and entangles and simply cannot be deciphered one-dimensionally.


Text: Hannah Eckstein
Translation: Alexander Serner