Galerie Bärbel Grässlin

Alicia Viebrock
Manienna
Apr 13May 18 2024


Eine Art von Urknall

Aus der Ferne großes, simultanes Aufflackern und Verglühen. Zu jeder Bewegung scheint sich schon eine Gegenbewegung zu formieren: Flucht und Hin, hin und weg, links / rechts, oben / unten, Diagonalen, krumme Wege. Farbströme fließen oder bleiben stecken (in einer schmalen Anhöhe von dichtem Weiß), verzweigen sich weiter fort oder veröden. Und zu jeder Behauptung formulieren diese Bilder rasch ihre Gegenbehauptung: Überschäumender Überschwang trifft konzise Reduktion, leuchtende Tusche auf verschmierte Farben, schlammig fast, Schnelligkeit auf Statik, soft Verwaschenes auf kantige Präzision. 

In Alicia Viebrocks Bildern gibt es keinen einzelnen Verursacher oder er bleibt im Geheimen – eine Art ›Urknall‹, nach dem bekanntlich plötzlich alles ausgesprochen spezifische Gestalt annahm, was sich allerdings ausschließlich nachträglich feststellen lässt. Die ultimative Initialzündung, der ungeheure Überschuss an Energie und Materie bleibt auch nach dieser Theorie vom Entstehen allen irdischen Daseins undurchdringbar. Mit »Manienna« expandiert die Künstlerin ihre eigenen Bilduniversen auf inzwischen mehrere Quadratmeter, im selben Moment scheint eine weitere Verdichtung stattzufinden. 

Alicia Viebrocks Malerei kennt verschiedene Modi, die fortlaufend fortgeschrieben werden. Arbeiten auf weißem oder ungrundiertem Leinen beispielsweise, das unter präzisen Pinselstrichen als Bildelement deutliche Präsenz einnimmt (Parafrittus), überbordende Kompositionen, bei denen die Assoziation ›Farbexplosion‹ zwar etwas cheesy, aber sicher nicht falsch wäre (Spielunke), und Leinwände, die oft bläulich oder jetzt violett eingefärbt werden (wie in Lamia):

Auf wässrigem Untergrund spielen sich pastose Ereignisse ab, manches Bild erinnert an kristalline Eisflächen oder vielleicht an Blüten, die im Weltall explodieren. Daneben immer wieder Mischformen, in denen verschiedene Arbeitsprozesse überkreuz gehen. Der Wunsch, ein bestimmtes Bild zu malen, ist der geradlinigste Anlass für dessen Entstehung: Das herausstechende Absentee beschreibt Viebrock so als Resultat einer Notwendigkeit, sehr schnell auf Leinwand zu arbeiten. Das Zeitfenster, in dem ein solches Bild möglich wird, schließt sich rasch wieder.

Farbe dient der Malerin als ein Hauptakteur, den sie mal chromatografisch kalkuliert einsetzt und von dem sie sich ein anderes Mal selbst hinreißen lässt. Ihr Arbeitsprozess ist ein Pingpong, Ausloten zwischen Unvernunft und Planung. Wieder entfernte Assoziationen an Naturwissenschaften – durch die Verbindung verschiedener Viskositäten erzeugt Alicia Viebrock, wie sie formuliert, ›Massenverschiebungen‹ im Bild. So laufen Tusche und Acryl aneinander vorbei, ignorieren sich oder kämpfen miteinander: »Auf diese Weise geschieht etwas ganz anderes, eine andere Spannung, die nichts mit meinem Strich zu tun hat.« Ein malerisches Ereignis, das sich allein in der Farbe, bisweilen in der alchemistischen Vorbereitung ihrer Anmischung abspielt.

Es ist gerade diese physische Anmutung, in der sich Kipppunkte aufmachen. Vage Ahnungen treten hervor, eher eine Art Verdacht, als ob Jahrhunderte vorbeigezogen und malerische Partikel daraus in kondensierter Form ihren Niederschlag in einzelnen Pinselstrichen und Farbformungen gefunden haben. Ein Impressionismus an der Schwelle zur Abstraktion. Oder, viel später, eine Form von abstraktem Expressionismus? Die Veräußerung der verinnerlichten Außenwelt? Tatsächlich ist Alicia Viebrocks Bildvokabular angereichert von einer Sphäre, die in einiger Entfernung zu dem liegt, was Kunstportale vielleicht aus Verlegenheit heute als ›ultra-contemporary‹ einordnen würden: 

Ihre Malerei bleibt fraglos abstrakt, niemals am konkreten naturalistischen Abbild orientiert. Informiert aber ist sie durch Jahrhunderte einer ganz anderen Geschichte der Bildwerdung, ohne dass die genaue zeitliche Verortung näher relevant wäre. Alicia Viebrocks Vorstellungskraft transzendiert durch Malerei und deren niedergeschriebenen Kanon, aber mehr noch jene Malerei außerhalb davon: »Ich mag Manierismen, ich mag italienischen Kitsch, den Tand.« Ihr sardischer Großvater malte Fresken an Kirchendecken. Großen Respekt hat sie vor der Kunst, die sich heute außerhalb der zeitgenössischen Akademien abspielt. 

Ihre Bilder, die fern jeder anekdotischen Deutung und konkreter Abbilder entstehen, lässt die Malerin zu genau solcher frei. Titel spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Noch das kleinste Format wird benannt. Alicia Viebrock gibt ihren Bildern Namen, wohl auch um sie vom Thron herunterzuzerren – Wortspiele, Assoziation und Albernheit, Kombinationen sardischer mit deutscher Sprache, italienische Süßigkeiten und Banalitäten generieren einzelne Titel, lose zusammen entstandene Bildreihen werden durch Währungs- oder Copyrightzeichen dem subjektiven Ranking freigegeben (Dollar trumpft Euro? Copyright sticht alle?). 

Mit ihren Ausstellungen in der Filiale und jetzt in der Galerie Bärbel Grässlin schlägt Alicia Viebrock Einstiege ins freie Assoziieren vor, die für den Malprozess keine Rolle spielen, aber für’s Anschauen und Habhaftwerden der Bilder danach womöglich doch: »Of Loners and Charmeurs« hieß ihre erste Ausstellung in Frankfurt (2017), es folgten »calories« (2018), »Amnesia Royal« (2020), »Amygdala Mundi« (2021) und schließlich »Vulvarability« (2022), eine unschlagbare Gleichzeitigkeit aus »Vulva« und »vulnerability«.

Nun also »Manienna«. Kondensiert: manisches Malen in Wien. Ein weiterer Versuch, Ordnung ins kosmologische Chaos zu bringen, auch wenn jede Erkenntnis wie immer vorläufig bleiben muss. Das potenziell Dysfunktionale wird zu einem Zustand maximaler künstlerischer Konzentration umgedeutet. Man kann in diese Bilder hinein- und herauszoomen, von der Mikro- auf die Makroebene: Dann finden neuronale Netze, die fortwährend feuern, ihre Entsprechung in einer überirdischen Wirklichkeit, einer Supernova womöglich, die nur im Augenblick ihrer Explosion kurzzeitig so hell aufleuchtet wie eine komplette Galaxie.

 

 

 

 


A big bang of sorts

From afar, an enormous flare-up and a concurrent burn out. Every move already seems to evoke a counter-move: Flight and back, to and fro, left / right, up / down, diagonals, winding pathways. Gushes of color course about or get stuck (in a slender rise of dense white), keep branching out or wither. And for almost every proposition, these paintings are fast to articulate a counter-proposition: brimming exuberance collides with concise reduction, vibrant inks with smeared colors, nearly muddy, velocity with static, soft washed-outness with edgy precision.

There is no sole cause in Alicia Viebrock’s paintings or it remains covert – a ›big bang‹ of sorts, after which everything famously took its explicitly specific shape, even though this can only be determined after the fact. This ultimate initial spark, the tremendous surplus of energy and matter, still remains opaque despite this origin theory of all earthly existence. With »Manienna«, the artist expands her own pictorial universes to several square meters, while simultaneously, an apparent condensation takes place.

Alicia Viebrock’s painting employs various modes, she continuously perpetuates. Works on white or unprimed linen for instance, which gains distinct presence as a pictorial element among the precise brushstrokes (Parafrittus), exuberant compositions, for which the association ›explosion of color‹ surely sounded somewhat cheesy but certainly not wrong (Spielunke), as well as canvases, which had often been stained in blue or rather recently in violet (as in Lamia): Upon a watery backdrop, pastose events occur, some paintings are reminiscent of crystalline planes of ice or possibly of flowers exploding in space. Then again, there always are mixed forms, in which the different approaches and processes cross ways. The desire to paint a particular painting is the straightest incentive for its creation: Accordingly, Viebrock describes the outstanding Absentee as the result of an urge to work very quickly on canvas. The time frame for such a painting to become possible closes all too fast.

Color serves as a main actor for the painter, at times chromatographically calculated, at others to simply get carried away by it. Her practice is a ping-pong, a fathoming of irrationality and planning. Once more, distant associations to natural sciences—by merging different viscosities, Alicia Viebrock generates, as she puts it, pictorial »mass shifts«. Ink and acrylic run past each other, ignore or fight each other: »Like this, something completely different takes place, a different friction that has nothing to do with my stroke.« A painterly event, which plays out in color alone, occasionally in the alchemical preparation of its mixture.

It is exactly this physical appeal, which reveals the tipping points. Vague premonitions manifest, rather a suspicion of sorts, as if centuries have past and some of their painterly particles have, in a condensed form, affected individual brushstrokes and formations of color. An Impressionism on the verge of abstraction. Or, considerably later, a form of Abstract Expressionism? The externalization of the internalized outerworld? Alicia Viebrock’s vocabulary is indeed nourished by a sphere far beyond what art portals, for lack of better words, classify as ›ultra-contemporary‹:

Her painting is without any doubt abstract, never orientated towards a concrete naturalistic depiction. She is instead informed by centuries of another history of pictorial creation, no matter the exact temporal pin-pointing. Alicia Viebrock’s imagination transcends by means of painting and its written canon, yet even more so by means of the painting outside of it: »I favor mannerisms, I favor Italian Kitsch, the frills and froth.« Her Sardinian grandfather painted frescoes on church ceilings. Her respect is huge towards an art happening outside of the contemporary academies.

Just like it, the painter frees her paintings, which come into being far from any anecdotal interpretation or concrete depictions. In this, titles play an eminent part. Even the smallest piece is given a name. Alicia Viebrock names her paintings, likely to drag them down from their thrones—puns, associations and follies, combinations of Sardinian and German languages, Italian sweets and banalities produce individual titles, loosely connected series provide opportunities for subjective rankings by means currency or copyright signs ($ trumps €? © outdoes all?).

Alicia Viebrock’s exhibitions at Filiale and at Galerie Bärbel Grässlin are offers entry points for free association that might not have a part within painterly process but may possibly play one in the subsequent perception and apprehension of the paintings: Her first exhibition in Frankfurt was called »Of Loners and Charmeurs« (2017), followed by »calories« (2018), »Amnesia Royal« (2020), »Amygdala Mundi« (2021) and finally »Vulvarability« (2022), an unbeatable simultaneity of »vulva« and »vulnerability«.

And now, »Manienna«. Condensed: Manic painting in Vienna. One more attempt to bring order to the cosmological chaos, albeit that all knowledge, as always, has to remain preliminary. What is potentially dysfunctional gets reinterpreted into a state of maximum artistic concentration. You can zoom in and out of these paintings, from the micro to the macro level: Then constantly firing neuronal networks find their counterpart in a supernatural reality, a supernova perhaps, which only for the moment of its explosion briefly shines as brightly as an entire galaxy.

 

 

 

 

 

 

 

Text: Katharina Cichosch
Translation: Alexander Serner